Wahlmöglichkeiten und das goldene Mittelmaß: Was wir aus dem Lebensrückblick betagter Menschen lernen können

Nygren, B., Norberg, A. & Lundman, B. (2007). Inner Strength as Disclosed in Narratives of the Oldest Old. Qualitative Health Research, 17(8), 1060-1073.

 

Menschliches Altern

Alt zu werden bedeutet sowohl Gewinn als auch Verlust. Verlust, da körperliche Kräfte abnehmen, vermehrt Krankheiten auftreten und Entwicklung allmählich durch Verminderung und Schwäche gekennzeichnet ist. Gewinn hingegen steht für Gesundheit, Stärke, Wachstum und Reife.

Untersuchungsziel

Das Ziel von Nygren et al. war es die Bedeutung innerer Stärke bei Menschen im Alter ab 85 Jahren zu untersuchen. Die Forscher und Forscherinnen dieser Studie richteten ihre Aufmerksamkeit folglich auf Gewinn, Gesundheit und Stärke als mögliche Aspekte normalen Alterns.

Bisheriges Wissen über das Konzept innerer Stärke

Dingley, Roux & Bush (2000) analysierten das Konzept innerer Stärke und entdeckten dabei sechs wesentliche Eigenschaften:

  • Wachstum und Wandel,
  • sich einem Lebensereignis oder einer Lebenserfahrung stellen,
  • Selbsterkenntnis vertiefen,
  • Eigene Bedürfnisse und Kraftquellen kennen um Bedürfnissen nachzukommen,
  • Verbundenheit und
  • eine konzentrierte und ausgewogene Wechselwirkung mit der eigenen Umgebung.

Darüber hinaus zeigten sie, dass innere Stärke mit einer gewissen

  • Leistungsfähigkeit,
  • Kontrolle und Selbstbestimmung,
  • Beherrschung,
  • einem positiven Selbstkonzept sowie
  • psychologischem Wohlbefinden zusammenhängt.

Was heißt es, ein betagter Mensch mit innerer Stärke zu sein?

Ergebnisse

Die Untersuchung zeigt, dass das Konzept innerer Stärke bei Menschen im hohen Alter durch folgende fünf Themenbereiche beschrieben werden kann, die jeweils ein Kontinuum zwischen zwei Polen aufmachen:

  • Sich kompetent fühlen und dennoch an andere glauben:
    Das heißt, eine Person kennt ihre eigenen Stärken. Zugleich ist es ihr möglich Hilfe von außen zu bekommen und anzunehmen; so erlebt sie auch Stärke durch andere.
  • Auf die hellen Seiten des Lebens schauen ohne sich vor den dunklen Seiten des Lebens zu verstecken:
    Ringen ist ein Teil des Lebens. Damit ist gemeint, dass man sich mit Nöten und Widrigkeiten auseinandersetzt ohne aufzugeben. Dennoch kann sich ein Mensch mit innerer Stärke freuen und positive Aspekte finden. Das Sterben wird als ein Teil des Lebens empfunden.
  • Sich entspannt fühlen und ebenso aktiv sein:
    Arbeit wird als ein weiterer Teil des Lebens betrachtet und zwar hier in dem Sinn, als dass Verantwortung sowohl für sich selbst als auch für andere übernommen wird. Menschen im hohen Alter ist es wichtig ihre Arbeit besonnen und ohne Hetze tun zu können. Gleichzeitig kann aktiv zu sein auch bedeuten energisch aufzutreten und für sich einzustehen. Ruhen und Kräfte sammeln ist die wichtige Kehrseite und gehört hier auch dazu; ebenso das Gefühl inneren Friedens, in dem man sich akzeptiert wie man ist, akzeptiert wie das eigene Leben war und wie es ist und stolz auf sein Leben blickt.
  • Die selbe Person bleiben, aber in ein „neues Gewand“ hineinwachsen:
    Alt zu werden bedeutete für die interviewten Frauen und Männer der beziehungsweise die Gleiche zu bleiben, sich selbst wiederzuerkennen, obwohl sie in ein „neues Gewand hinein wachsen“. Fast alle Befragten sagten, sie fühlen sich nicht alt, außer in einigen Situationen, wie zum Beispiel beim Gehen! Es gilt, sich mit jenen Aspekten des Alterns zu versöhnen, die nicht beseitig oder geändert werden können. Betagte Menschen mit innerer Stärke können Veränderung als Teil des Lebens annehmen und sich dennoch an neuere Umstände anpassen.
  • Verbunden mit der Gegenwart zu leben und dennoch Bezüge zur Vergangenheit und Zukunft herstellen:
    Hier geht es einerseits um vertraute, innige Beziehungen zu Mitmenschen wie um Situationen in der Gegenwart. Anderseits geht es auch um Erinnerungen an verstorbene Menschen und Erlebnisse in der Vergangenheit. Sich Menschen, Tieren und der Natur nahe zu fühlen wirkt stärkend, so auch die Möglichkeit für sich alleine sein zu können; bedrohlich hingegen ist die Erfahrung einsam zu sein.
    Das Empfinden, zu verschieden Zeitdimensionen in einem Bezug zu stehen, meint hier sich als Teil eines größeren Ganzen zu verstehen; so zum Beispiel in Bezug zur Natur, zu anderen Menschen oder in dem man Geerbtes weiter vererbt.

Die Wahl haben

Die Studienautorinnen weisen darauf hin, dass einige der Haltungen, wie sie in den fünf Themenbereichen deutlich werden, keine Gegensätze darstellen – dennoch sei eine gewisse Wahl möglich. Die Frage ist, was hat innere Stärke mit der guten Wahl zu tun?

Das Goldene Mittelmaß

Aristoteles vertritt die Ansicht, dass das goldene Mittelmaß, im Sinn eines Standpunktes, immer bedeutet das Gute zu wählen. Die Wahl des Guten sollte sowohl für einen selbst als auch für andere zum Tragen kommen. Er unterscheidet dabei zwischen der Wahl des Mittleren und des goldenen Mittelmaßes. Manchmal bedeutet das Gute zu wählen „auf´s Ganze zu gehen“ – dann zum Beispiel, wenn man zu dem Schluss kommt für das Gute einstehen zu müssen. Er nennt es praktische Weisheit (griechisch: phronesis), die wir benötigen um das Gute zu wählen. Weiter bedürfe es der Übung, denn einfach sei das Wählen des goldenen Mittelmaßes nicht.

Der je eigene Lebensrückblick der Studienteilnehmerinnen weist auf viele gut getroffene Entscheidungen hin. Innere Stärke zu haben – so die Autorinnen der Studie – bedeutet die praktische Weisheit zu haben das goldene Mittelmaß zu wählen.

Zusammengefasst von Katharina Nigsch

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