Schnell, T., Gerstner, R., & Krampe, H. (2018). Crisis of Meaning predicts suicidality in youth independently of depression. Crisis – The Journal of Crisis Intervention and Suicide Prevention, 39, 294-303.
Wodurch entsteht Suizidalität?
Der allgemein vorherrschende Konsens in der psychologischen Praxis betrachtet Suizidalität entweder als eine Folge oder als ein Symptom von spezifischen klinischen Störungsbildern, wie zum Beispiel dem der Depression. Schnell, Gerstner und Krampe (2018) befassen sich hingegen mit dem Zusammenhang von Sinnkrisen und Suizidalität, wobei sie Depression, belastende Lebensereignisse, Selbstwert und Zufriedenheit mit familiärer Unterstützung mit einbeziehen. Dazu untersuchten sie 300 ecuadorianische SchülerInnen zwischen 15 und 24 Jahren.
Was ist eine Sinnkrise und wodurch zeichnet sie sich aus?
Nähern wir uns diesem Phänomen erst über dessen Gegenteil – Sinnerfüllung, die Erfahrungvon Sinnhaftigkeit. Dafür ist ausschlaggebend, dass das eigene Leben (meist unbewusst) als kohärent, bedeutsam, orientiert und zugehörig bewertet wird. Erst wenn dieses Fundament Risse bekommt, beginnt der Mensch seine eigene Existenz zu hinterfragen. Jedoch findet sich auf diese Fragen selten eine leichte und schnelle Antwort. Die Gefühle von Hoffnung und Zuversicht weichen den Gefühlen von Angst, Sinn- und Bedeutungslosigkeit – eine Sinnkrise wird erlebt. Die Bedeutung von Sinn und Sinnerfüllung gelangt also oft erst in unser Bewusstsein, wenn es uns daran mangelt. Eine Sinnkrise ist ein leidvoller, bewusster Zustand von Sinnleere, geprägt von großer Sehnsucht und dem Streben nach Sinn und Bedeutung. Gleichzeitig nehmen Pessimismus, Frustration und Gefühle von Angst zu.
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Sinnkrisen und depressiven Störungen? Und was hat das mit Suizidalität zu tun?
Dieses Leiden an einer Sinnleere wurde bisher in der psychologischen Forschung fast ausschließlich als „Symptom“ der Depression – weniger als eigenständiges psychisches Phänomen – verstanden. Die vorliegende Studie zeigt: Depression und Suizidalität sind zum Teil voneinander unabhängig. Eine Depression geht zwar im Großteil der Fälle (82%) mit einer erlebten Sinnkrise einher. Allerdings wird das Erleben einer Sinnkrise nur in einem Drittel der Fälle (35%) von einer depressiven Symptomatik begleitet. Insofern tritt eine Depression zwar häufig mit einer Sinnkrise auf, dennoch wird eine Sinnkrise oft auch ohne eine diagnostizierbare Depression erfahren.
Zudem setzen Schnell, Gerstner und Krampe (2018) die drei Einflussgrößen (belastende Lebensereignisse, Selbstwert und Zufriedenheit mit familiärer Unterstützung) mit den erhobenen Konstrukten der Sinnkrise, Depression und Suizidalität in Beziehung. Es ergab sich, dass die erfragten individuellen Einflussgrößen sehr wohl in einem Zusammenhang zur Suizidalität stehen, sich dieser Zusammenhang aber beinah vollständig durch eine entstandene Depression oder eine erlebte Sinnkrise erklären lässt. Das bedeutet, dass sich die spezifischen Ausgangsbedingungen der einzelnen SchülerInnen in erster Linie auf das Risiko auswirken, eine Depression zu erleiden oder eine Sinnkrise zu erleben. Diese bedingt wiederum die erfahrene Suizidalität.
Des Weiteren liegen geschlechtsspezifische Unterschiede vor: Für Männer stand allein das Erleben einer Sinnkrise im signifikanten Zusammenhang mit Suizidalität. Vor dem Hintergrund, dass Männer im Durchschnitt 2-3mal häufiger Suizid begehen als Frauen, ist dieses Ergebnis besonders wichtig.
Was lässt sich aus der Studie ableiten?
Sowohl die Depression als auch die Sinnkrise stehen in Zusammenhang mit Suizidalität. Auch, dass eine Sinnkrise häufig unabhängig von einer diagnostizierbaren Depression erlebt wird, kann den Ergebnissen der Untersuchung entnommen werden. Dies lässt den Schluss zu, dass die Sinnkrise nicht das gleiche ist wie eine Depression und damit auch in der Suizidprävention ernst genommen werden sollte. Zudem gibt die Studie auch Hinweise auf vorliegende Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Fazit: Eine verkannte Gefahr?
Die Thematik von Sinnkrisen nimmt in der klinischen Psychologie bisher einen sehr untergeordneten Stellenwert ein. Die Ergebnisse dieser Untersuchung deuten allerdings daraufhin, dass ihr Einfluss auf die psychische Gesundheit um einiges größer sein könnte als bisher angenommen. Dass sich jeder von uns im Laufe seines Lebens öfter mit existenziellen Fragen konfrontiert sieht und dass es auf diese keine eine richtige Antwort gibt, bedeutet noch lange nicht, dass sie nichtig sind und man ihnen keine Beachtung schenken muss. In einem Gesundheitssystem, das lediglich darauf basiert, Krankheiten zu behandeln statt zusätzlich die Lebensqualität und Gesundheit der Menschen zu fördern, ist es jedoch sehr schwierig eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten, welche sich unter anderem auch dem Erleben von Sinnkrisen annimmt. Insofern müssen wir an unserem Gesundheitsverständnis arbeiten, um dem Sinnerleben einen eigenständigen Platz in der Suizidprävention zuzugestehen. Des Entwicklungsprozesses der Sinnstiftung sollten wir uns schon in Jugendjahren annehmen, damit sich unseren Jugendlichen Sinnperspektiven eröffnen, die stärker sind als der Wunsch sich das Leben zu nehmen.
Zusammengefasst von Frederik Jetter und Carmen Hoffmann
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