Steil, aber machbar! Wie Sinn dazu beiträgt, dass Herausforderungen realistisch und bewältigbar erlebt werden

Burrow, A. L., Hill, P. L., Summer, R. (2016). Leveling mountains: Purpose attenuates links between perceptions of effort and steepness. Personality and Social Psychology Bulletin, 42, 94-103.

Unsere Wahrnehmung von Steigung ist oft ungenau, und wir schätzen diese meist steiler ein, als sie tatsächlich ist. So konnten viele Experimente zeigen, dass Menschen geometrische Steigungen überschätzen: Dabei handelte es sich sowohl um reale Berge und Treppenhäuser wie auch um virtuelle Steigungen, die lediglich auf Computerbildschirmen abgebildet wurden.

Aber was könnte es sein, das uns dazu bringt, die Steigung eines Berges so falsch einzuschätzen? Hier konnte die Forschung bereits zeigen, dass die Stärke der überschätzten Steigung mit der erwarteten benötigten Anstrengung zur Besteigung des Berges zusammenhängt. Genauso konnte festgestellt werden, dass die Einschätzung der Steilheit von Steigungen damit zusammenhängt, wie stark man sich psychisch und physisch belastet fühlt. Wenn diese Belastung hoch ist, ist auch die Überschätzung der Steigung höher.

Nun stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen ein Individuum einen Berg zwar als steil wahrnimmt, die Anstrengung aber nicht überschätzt. Welche Ressourcen können uns Motivation oder Durchhaltevermögen in harten Situationen verleihen? Durch Bezugnahme auf Forschungsergebnisse der Vergangenheit ging man in dieser Studie davon aus, dass Sinn im Leben eine solche Ressource darstellen könnte. Man vermutete, dass Menschen, die eine starke Sinnerfüllung haben und mit einer Herausforderung konfrontiert sind, die dafür benötigte Anstrengung als geringer einschätzen. Beeinflusst Sinn im Leben womöglich die Wahrnehmung von Herausforderungen?

Die hier vorgestellte Untersuchung bestand aus vier Studien, die den Zusammenhang zwischen der eingeschätzten Anstrengung, eine Steigung zu bewältigen, und der Wahrnehmung der Steilheit in Abhängigkeit vom Sinnerleben untersuchten. Man postulierte: Je präsenter der Sinn bei einem Menschen, desto schwächer die Beziehung zwischen der eingeschätzten Anstrengung und der wahrgenommenen Steigung.

Einerseits wurde den Probanden eine virtuelle Steigung präsentiert, und sie sollten die Steigung und die dafür geglaubt benötigte Anstrengung, um an den Gipfel zu gelangen, einschätzen. Desweiteren wurden diese zwei Faktoren gemessen, während die Probanden reale Berge sahen. Es zeigte sich: Je höher die Anstrengung zur Erreichung des Gipfels eingeschätzt wurde, desto mehr wurde auch die Steigung des Berges überschätzt. Andererseits konnte man aber feststellen, dass bei Menschen, die grundsätzlich mehr Sinn empfanden, der Zusammenhang zwischen der eingeschätzten Anstrengung und der Steigungsüberschätzung abnahm. Sinn führte also zu einer geringeren Überschätzung der Steigung. Sogar wenn die Anstrengung als hoch eingeschätzt wurde, wurde die Steigung weniger überschätzt. Diese Effekte konnten einerseits bei virtuellen Steigungen, andererseits bei realen Bergen gezeigt werden. Sie zeigten sich sogar bei Menschen, die sich nur kurz mit dem Thema Sinn während der Studie beschäftigten, indem sie einen Text über dieses Thema verfassten!

Hieraus lässt sich schließen, dass Sinn unsere Einschätzung von Ansteigungen beeinflusst, indem die Annahme, wie viel Anstrengung nötig ist, um diese Herausforderung zu bewältigen, von der Wahrnehmung der Steilheit der Steigung entkoppelt wird. Wir nehmen die Steigung unabhängig von der vorgestellten Anstrengung wahr.

Es ließ sich also bestätigen, was die bisherige Forschung auch schon zeigen konnte: Sinn im Leben stellt eine fundamentale Kraft und Quelle der Motivation dar, um Herausforderungen standzuhalten. Neu ist, dass diese Tatsache auch bei der visuellen Wahrnehmung und bei physischen Herausforderungen festgestellt werden konnte. Interessant ist, dass sogar schon durch das Schreiben eines Textes über Sinn die selben Zugewinne produziert werden konnten wie bei Menschen, die hohe Werte an dispositionalem Sinn, also dem überdauernd empfundenen Sinn im Leben, aufweisen.

Genauso konnte festgestellt werden, dass Sinn mehr ist als nur das „sich Ziele Setzen“ im Leben. Das Konstrukt Sinn ähnelt mehr dem Konzept des Kohärenzsinns, der Menschen dazu befähigt, ihr Leben auch bei großen Herausforderungen gut zu meistern, indem sie vorhandene Ressourcen richtig identifizieren und anwenden können. Sinn ist also eine länger andauernde Ressource, eine robustere Motivationsquelle als spezifische Ziele, die man sich im Leben setzt.

Desweiteren ist hervorzuheben, dass der empfundene Sinn nicht dazu führte, dass die Steigung zunächst als geringer wahrgenommen wurde, um dann zu bewirken, dass auch die Anstrengung als geringer eingeschätzt wurde. Das Empfinden von Sinn verändert also nicht direkt unsere visuelle Wahrnehmung. Es ist eher so, dass wir durch Sinn Herausforderungen realistischer wahrnehmen und sie dann auch als bewältigbarer empfinden. Sinn kann also unsere Einschätzungen unserer Ressourcen beeinflussen. Dies kann unter fast jeder Bedingung im Leben gewinnbringend und erleichternd wirken, wo die Einschätzung von Anstrengungen als sehr hoch empfunden wird – was uns womöglich von bereichernden Erfahrungen abhalten könnte.

Schon allein die Beschäftigung mit Sinn kann dazu führen, dass wir Zugriff auf eine Ressource bekommen, die uns dazu motiviert, uns Herausforderungen zu stellen. Dies ist eine bedeutsame Erkenntnis – und vielleicht ein Grund mehr, sich auf www.sinnforschung.org umzuschauen?!

Zusammengefasst von Miriam Böhmer

 

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