Ein starker Lebenssinn und gute Selbstbeherrschung* lassen uns an Corona nicht verzweifeln
Schnell, T. & Krampe, H. (2020). Meaning in Life and Self-Control Buffer Stress in Times of COVID-19: Moderating and Mediating Effects With Regard to Mental Distress. Frontiers in Psychiatry 11:582352. doi: 10.3389/fpsyt.2020.582352
Die PsychologInnen Tatjana Schnell und Henning Krampe untersuchten, in welchem Zusammenhang Corona und die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit unserem psychischen Wohlbefinden standen. Dabei wurde auch analysiert, was Menschen half, in dieser schwierigen Zeit psychisch gesund zu bleiben. Als mögliche Schutzfaktoren standen die Rolle des persönlichen Sinnerlebens und eine gute Selbstbeherrschung im Fokus. An der Studie nahmen insgesamt 1538 Deutsche und Österreicher während des Lockdowns im Frühjahr dieses Jahres und in den direkt anschließenden Wochen teil. Da wir zum ersten Mal eine Pandemie dieses Ausmaßes erleben, wurde ein spezielles Instrument entwickelt, um Stress auf Grund von Corona(-Maßnahmen) wissenschaftlich messen zu können. Dieses Instrument konzentriert sich auf das Gefühl, die Situation nicht ertragen zu können, Langeweile, Wut und Gefühle des Alleingelassen-Seins, sowie Pessimismus und Ängste, der Lage nicht gewachsen zu sein.
Die Studie deckte auf, dass besonders Menschen, die alleine lebten, die nur in einem Zimmer, statt in einem Haus oder einer Wohnung lebten oder die arbeitslos durch Corona wurden, besonders unter der Pandemie litten. Demgegenüber ging es Menschen, welche verheiratet waren oder in einer Partnerschaft lebten, besser. Der stärkste und erstaunlichste Befund im Hinblick auf demographische Merkmale war jedoch, dass ältere Menschen weniger stark unter Corona litten. Obwohl gerade diese eher mit einem kritischen Verlauf bei einer Ansteckung rechnen können, zeigte sich diese Gruppe am wenigsten gestresst durch die Situation.
Viele Studien konnten bereits belegen, dass die Pandemie unserer Psyche zusetzt, aber diese Studie ging noch einen Schritt weiter. Anstatt nur die negativen Auswirkungen zu untersuchen, wollten die Forschenden wissen, wie es Menschen in diesen schwierigen Zeiten schaffen, gesund zu bleiben. Dabei wurden zwei zentrale Abwehrkräfte untersucht – Lebenssinn und Selbstbeherrschung. Diese beiden Faktoren sind bekannte Ressourcen in der Bewältigung von Krisen. Die Studie konnte zeigen, dass Menschen, die über einen hohen Lebenssinn und/oder über eine hohe Selbstbeherrschung verfügten, nicht nur generell robuster gegenüber Krisen sind als andere Menschen, sondern dass sie auch die aktuelle Pandemie im Speziellen besser verkrafteten. Neben diesem Befund wiesen die Daten außerdem einen anderen wichtigen Zusammenhang auf: Ein hoher Corona-Stress ging mit Sinnkrisen einher. Sinnkrisen wiederum beeinträchtigten die psychische Gesundheit. Dieser Zusammenhang war jedoch weniger schlimm, wenn diese Menschen ihre Selbstbeherrschung aufrechterhalten konnten. Wenn wir unsere Bedürfnisse und unser Verhalten gut unter Kontrolle haben, können also scheinbar auch schwere Krisen uns nicht so leicht etwas anhaben.
Hurra, der Lockdown ist vorbei! Aber wie geht’s weiter?!
Spannend an dieser Studie war auch, dass sie zeigen konnte, dass die untersuchten Menschen während des Lockdowns mehr an Corona-Stress als an generellem psychischem Stress litten. Aber dieses Bild kehrte sich mit der Lockerung der Maßnahmen um: Die Menschen erlebten mehr psychischen Stress, und zusätzlich noch doppelt so häufig Sinnkrisen. Warum Menschen nach dem Lockdown psychisch stärker litten, kann vielleicht daran liegen, dass ihre Selbstbeherrschung am Ende war. Nach der Theorie der Ich-Erschöpfung ist Selbstbeherrschung eine Ressource, die irgendwann verbraucht ist, wenn wir permanent versuchen, uns unter Kontrolle zu halten. Nach mehreren Monaten der Einschränkung könnte dieser Zustand bei vielen Menschen erreicht sein – vor allem, wenn sie nicht mehr sehen, warum sie sich beherrschen sollen.
Die drastisch erhöhten Sinnkrisen können verschiedene Gründe haben. Vielleicht lag es daran, dass Menschen durch Jobverlust vor finanziellen Problemen standen. Es kann auch sein, dass sie durch den Lockdown dazu veranlasst wurden, ihr Leben radikal zu hinterfragen und dadurch in eine Sinnkrise gerieten. Eine andere Erklärung könnte aber auch sein, dass das konsequente Krisenmanagement sowohl der deutschen als auch der österreichischen Regierung während des Lockdowns sinnstiftend war. Wieso sollte es dann anschließend zu mehr Sinnkrisen kommen? Ganz einfach: Unser Sinnerleben wird maßgeblich durch die vier Facetten Bedeutung, Kohärenz, Orientierung und Zugehörigkeit gesteigert.
- Bedeutung ist das Gefühl, dass unser persönliches Handeln zählt und wichtig ist.
- Kohärenz beschreibt, dass wir uns selbst und die Welt um uns herum verstehen und vorhersagbar in dieser handeln können.
- Orientierung beschreibt, dass unser Leben eine Richtung hat.
- Zugehörigkeit beschreibt, dass wir uns einem größeren Ganzen zugehörig fühlen.
Während des Lockdowns war die Mehrheit davon überzeugt, dass das Befolgen der Regeln dazu beitrug, Menschenleben zu retten (Bedeutung). Was erlaubt war und was nicht, wurde klar kommuniziert (Kohärenz). Es wurde klar kommuniziert, welche Ziele mit den Maßnahmen verfolgt wurden (Orientierung). Und es war klar, dass diese Krise nur durch gemeinsame Anstrengung zu meistern sei (Zugehörigkeit). Das genaue Gegenteil erlebte die Bevölkerung aber im Sommer. Es wurden Maßnahmen erlassen und wieder zurückgenommen. Es kam zu frappierenden regionalen Unterschieden im Ausmaß und in der Umsetzung der Maßnahmen, und gesellschaftliche und politische Diskussionen über den Sinn der Maßnahmen nahmen kein Ende.
Was können Regierungen tun, damit wir diese Pandemie besser durchstehen?
Den Lockdown im Frühjahr hat die Gesellschaft tapfer ertragen, aber die Widersprüche werden lauter, und die Bereitschaft der Bevölkerung, die Maßnahmen weiter mitzutragen, sinkt. Damit wir nicht an den Maßnahmen verzweifeln und es nicht zu gewaltsamen Protesten gegen die Maßnahmen kommt, müssen die Regierungen es schaffen, jeder Bürgerin und jedem Bürger den Sinn der Maßnahmen klar zu machen. Nach den vier Sinnfacetten Bedeutung, Orientierung, Kohärenz und Zugehörigkeit sollte Folgendes passieren: Den Menschen sollte weiterhin klar gemacht werden, warum das Handeln jeder/s Einzelnen wichtig ist in dieser Notlage (Bedeutung). Notwenige Informationen müssen nicht nur verfügbar sein, sondern auch in einer Form transportiert werden, dass jede/r sie versteht (Kohärenz). Es muss wieder eine einheitliche, konsistente und klare Richtung in Bezug auf die Maßnahmen geben (Orientierung) – was nicht ausschließt, dass auch Fehler gemacht werden, welche wiederum transparent kommuniziert werden sollten. Schlussendlich ist deutlich zu machen, dass jeder einzelne Mensch zählt. Wir alle sind durch Corona und die Maßnahmen betroffen, egal ob Einheimische, Gastarbeitende oder Migranten (Zugehörigkeit).
Was kann jeder persönlich tun, um diese Krise gut durchzustehen?
Nutzen Sie die Zeit, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Sinnkrisen sind nichts, dass automatisch durch eine Krise hervorgerufen wird; die Krise kann uns aber den Raum dafür öffnen, schonungslos hinzuschauen. In der Krise haben wir die Chance, uns zu hinterfragen, zu wachsen und wichtige Weichen in unserem Leben neu auszurichten. Dabei zeigt die Sinnforschung, dass ein Absehen vom Selbst besonders heilsam sein kann. Wenn wir uns diesem Prozess aber verschließen, können wir an der Krise verzweifeln und schlussendlich sogar schwer psychisch erkranken.
Die Studie zeigte weiterhin, dass Selbstbeherrschung wichtig ist für unser Wohlbefinden, aber dass sich diese Ressource auch abnutzt. Versuchen Sie daher, Wege zu finden, abzuschalten und sich auch zu Hause zu entspannen, um psychisch fit zu bleiben. Rituale sind hierbei hilfreich, um exzessives Essen, Trinken oder auch Work-out zu kanalisieren. Schaffen Sie sich statt des Schwimmbadbesuches eine Wellness-Oase in Ihrem Badezimmer, statt des Clubbesuches machen Sie Ihre Privat-Silent-Disco mit Kopfhörern in Ihrem Wohnzimmer und der Sonntagsbrunch findet bei Ihnen am Küchentisch statt. Corona ist da und das können Sie nicht ändern, aber Sie können Ihren Umgang mit der Krise ändern.
Zusammengefasst von Christoph Kreiß
* Der umgangssprachliche Begriff „Selbstbeherrschung“ wird in der psychologischen Forschung mit dem Fachbegriff „Selbstkontrolle“ bezeichnet. Selbstkontrolle steht für die Fähigkeit, innere Impulse und Bedürfnisse zu steuern und der Situation entsprechend anzupassen.